Sweet sixteen
von
Antonia Weigand
Worte können vieles auslösen. Freude, Hass, Liebe, Verzweiflung –
Und sie können töten. So wie sie mich getötet haben.
Ausgelöst durch die Menschen, die sie sagten.
Es regnete in Strömen. Ich war völlig durchnässt. Doch ich spürte nichts. Da war nur eine tiefe Leere in mir. Ich wusste nicht, ob das Wasser auf meinen Wangen Regen oder Tränen waren. Es war eisig, aber ich fühlte die Kälte nicht. Ich fing an, laut zu schluchzen. Ich sank auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen. Der Regen stürzte weiter auf mich herab, er lief mir die Haare hinunter und rann an meinen Fingern entlang zu Boden. Ich saß nur da. Allein und mitten auf der Straße. Ich schaffte es kaum, mich wieder zu erheben, meine Beine waren steif wie Bretter und meine Finger taub. Als ich die Haustür aufschließen wollte, zitterten meine Hände so heftig, dass der Schlüssel in meinen Fingern klapperte. Ich rannte die Treppe hinauf ins Badezimmer. Dort durchwühlte ich den Medizinschrank nach Moms Tabletten. Es war ein kleines Päckchen, aus dem erst eine Tablette entnommen worden war. Ich ließ einige davon in meine Hand fallen. Es war so leicht. So lächerlich leicht, sie zu schlucken. Ich füllte Wasser in eines von Moms teuren Sektgläsern und spülte sie damit hinunter.
Auf diesen grandiosen Tag.
Ich ging in mein Zimmer, legte mich auf den Boden und schloss die Augen. Gleich, dachte ich, gleich war alles vorbei. Doch dieses tiefe Gefühl der Beruhigung war nicht alles, was ich spürte. Da war noch etwas Anderes, etwas das tiefer lag. Und es war Furcht. Doch es war zu spät. Du bist bereit, sagte ich mir immer wieder. Hier ist nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnt. Plötzlich drang ein lauter Ton an meine Ohren. Das Telefon klingelte. Es kam mir vor, als sei dies das unangenehmste, lästigste und zugleich realste Geräusch, das ich je vernommen hatte. Ich öffnete die Augen und versuchte halbherzig, mich zu erheben. Doch es ging nicht. Meine Glieder fühlten sich an, als hätte ich sie mit Gewichten beschwert. Meine Hände waren taub und mein Herz klopfte. Ich musste meine Augen wieder schließen. Eine bleierne Müdigkeit ergriff von mir Besitz. Es kam mir so bizarr vor, nur wenige Sekunden davon entfernt zu sein, zum letzten Mal eine menschliche Stimme zu hören. Mein Bewusstsein verschwamm und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dann verlor ich mich im Nichts.
Gleißendes Licht fiel auf mein Gesicht. Als ich die Augen einen Spalt breit öffnete konnte ich kaum etwas sehen. Alles war so furchtbar hell. Schemenhaft erkannte ich den Umriss einer Frau. Ich versuchte, meine Augen etwas weiter zu öffnen, doch mein Körper hatte keine Kraft. Selbst das Atmen bereitete mir Schwierigkeiten. In meiner Brust spürte ich einen drückenden Schmerz. Schließlich schaffte ich es doch, meine Augen ganz zu öffnen. Erst in diesem Moment nahm ich das monotone Piepen neben meinem Ohr war, das von irgendeiner Maschine herzurühren schien. Mein Blick fiel auf meinen Arm, der mit einem dünnen Gummirohr verbunden war. Langsam fing ich an zu begreifen. „Was...?“, krächzte ich und erschrak selbst, wie dünn meine Stimme klang. „Lily?“ Ich hörte das Wort wie aus weiter Ferne. Es war Mom. „Lily, bist... bist du wach?“ Ich nickte nur, ohne etwas zu sagen. Ich spürte, wie Mom sich in meine Arme stürzte. Sie umklammerte mich so fest, dass ich kaum noch atmen konnte. Als sie sich von mir löste, sah ich Tränen auf ihren Wangen. Ihre Schminke war verlaufen und es hatte den Anschein, als habe sie seit Stunden geweint. „Ich bin so – glücklich, ich kann dir gar nicht sagen...“ Sie wischte sich über die Augen. „Der Arzt hat gesagt, du hättest sozusagen eine Tablette zu wenig genommen.“ Ich spürte Tränen in meinen Augen. Die Worte hatten mich nicht töten können. Doch ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mom schniefte in ein Taschentuch. „Viele deiner Klassenkameraden waren hier“, fing sie an, „sie haben sich nach dir erkundigt. Sie... waren entsetzt. Sie sagten immer wieder, sie hätten nie gewollt, dass es so weit kommt...Was... meinten sie damit?“ Ein Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit. „Ich...“, setzte ich an, doch Mom winke ab. „Was rede ich da bloß?“, rief sie und lachte zittrig auf, „das kannst du mir alles später erzählen. Ruh dich aus. Ich habe dich ohnehin schon viel zu viel aufgeregt. Das Wichtigste ist“, fügte sie hinzu und ihre Stimme wurde weich, „dass du am Leben bist.“ Sie beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ein leises Lächeln huschte über meine Lippen.
Ja. Ich war am Leben.
(15 Jahre)