Denn manchmal ist das Verrückte das Beste in uns

 

von

 

Julika Enslin

 

Viele Menschen sagen, dass eine Kirche der ideale Ort ist um sich selbst von Grund auf zu ändern, nachzudenken und zur Ruhe zu kommen. Manche sagen auch es sei die Natur oder das Gefängnis, aber für mich bot sie damals ein ganz anderer,

etwas ungewöhnlicher Ort an: Eine Irrenanstalt.

 

 „Claire, 17, Aufenthaltsdauer: 2 Jahre“. Jedes Mal wenn ich diese gerade zu steril-weiße Tür öffnete sprang mir die ernüchternde Kurzbeschreibung meines Lebens ins Auge. Auf zwei Zahlen und einen Namen reduziert, versteckt in einem Zimmer, dass man in jedem Krankenhaus so vor finden könnte. Ja, Krankenhaus. Denn auch wenn das Türschild eindeutig darauf hinwies, dass es sich hier um eine „Psychatrische Klinik für junge Heranwachsende“ handelte, war sogar mir inzwischen klar geworden, dass „Irrenanstalt für Hoffnungslose Fälle“ wohl wesentlich angemessener gewesen wäre. Ein Ort um den „normale“ Menschen einen großen Bogen zu machen versuchten.

 

Denn dort waren schließlich Kranke. Ich war krank. Ein Dickkopf, mit blondem mittellangem Haar und ein ausdrucksloses Gesicht mit einem matten Paar brauner Augen. Ob es nun damals einer der anderen Menschen dort oder später ein Freund war, für sie alle gab es immer nur die eine Frage: „Warum warst du dort“. Denn letztendich sind wir änlich wie bei einem Gefängnis alle nicht ohne Grund dort.

An dem Tag an dem ich eingeliefert worden war hatte ich mir dieselbe Frage gestellt. Hatte mich gefragt, was wohl schiefgegangen sein könnte. In meinen frühen Kinderjahren war ich selten auf Probleme gestoßen und rückblickend bin ich mir auch gar nicht mehr ganz so sicher wann sich das geändert haben könnte.

 

Mit elf wurde ich dann Vegitarier, mit dreizehn weigerte ich mich weiterhin unser Shampoo zu benutzten und fünf Monate später wäre ich beinahe Vegan geworden, hätte der Artzt es mir nicht verboten.

 

Das erste „Einschneidenene Erlebnis“, wie Psychologen es so gerne nennen, hatte ich erst später. Ich war gerade fünfzehn geworden und auf Einkaufsbummel mit meiner damals einzigen Freundin. Als wir dann schließlich vor diesem angesagten Klamotten Laden standen, brach ich ebenso wie sie in Geschrei aus, mit dem Unterschied das sie darauf hin hinein gehen wollte und ich nur noch weg. Ein kurzer Blick auf das Model hatte genügt um das Bild in meinen Gedanken zu verhaken. Eine hübsche blonde Frau, mit Maßen nahe an der 90-60-90, doch an ihrem Körper klebte Blut. Unüberlegt und naiv wie ich war wagte ich einen zweiten Blick, traute dem nicht was ich gesehen hatte, doch auf einmal standen um sie herum lauter Kinder. Je näher und länger ich sie anstarrte, desto mehr wurden es und sie alle starrten zurück. Ein Mädchen, vielleicht in meinem Alter sah mich an als hätte ich ihr persöhnlich das letzte Stück Brot aus ihren kleinen, geschundenen Händen genommen und ein weiteres neben ihr rieb sich über den sichtlich aufgeblähten Bauch um danach ihren dünnen Arm nach mir aus zustrecken.

 

Das war der Zeitpunkt an dem ich rannte. Weg aus der Straße, über rote Ampeln, an grummelden Menschen vorbei, nur noch weg, weg, weg. Erst als ich schließlich in dem kleinen Grünstreifen ankam, der zwischen der Innenstadt und der Wohnsiedlung lag, traute ich mich das ertste mal wieder auf zu sehen.

 

An diesem Tag verlor ich auch meine letzte Freundinn und gewöhnte es mir an von nun an nur noch wenn unbedingt notwendig aufzuschauen. Meine Welt war der Boden, als wäre alles was darüber liegt eine andere Dimension, etwas zu grauenvolles, dass ich nicht wahrnehmen wollte und konnte. Im August dann, zwei schwierige Monate der Angst und Anpassung später, war es an der Zeit mein Referat über Moralverständniss im Ethikunterricht zu halten. Ich hatte mir fest vorgenommen alles was ich sehen würde zu ignorieren, konzentriert zu bleiben nach dem Motto „Augen zu und durch“. Doch als ich dann zu sprechen begann und dabei meinem Lehrer einen flüchtigen Blick, hoffnungsvoll nach Zuspruch suchend, zuwarf, war es um mich geschehen. Gegen all meine Vorsätzte, die Disziplin starrte ich ihn an - meine Augen zur Tellergröße aufgerissen. Von seinen Schultern hing ein totes Krokodil, dessen glasige Augen mich hilflos ansahen. Seine Hemd war blutgefärbt und direkt vor seinen Schuhen lag ein totes Rind. Ich hatte schon zu lange gestarrt, denn nun kamen auch all die Kinder wieder, in Lumpen und barfuß standen sie da in mitten unseres Klassenraums mit Fußboden Heizung und Whiteboard. Und diesmal konnte ich einfach nicht rennen.

 

Die Moral immer noch auf der Zunge stieß ich den Overheadprojector beiseite, hastete auf meinen verwirrt dreinblickenden Lehrer zu und riss ihm mit einem festen Handgriff den Mantel und dann auch das Hemd vom Körper. Ich glaube er war so erstaunt über was ich soeben getan hatte, dass er erst als ich das ganze aus dem Fenster warf wieder klaren Gedanken fasste und zum Telefon griff.

 

Ja, genau deshalb war ich dort, weigerte mich die Kleidung anzuziehen die sie mir gaben und saß meist allein in meinem Zimmer und schaute in den kleinen Garten vor der Klinik.

Nach außen hin war ich krank, für die Menschen dort eine von vielen und jetzt wo ich so viel Zeit hatte versuchte ich endlich herauszufinden wer ich selbst glaubte, der ich war und wie es mit mir weitergehen sollte.

 

Wenn ich heute Menschen begegne versuche ich immer sie anzusehen, an indischen Kinderarbeitern und toten Tieren vorbei und versuche zu lächeln. Manchmal bilde ich mir sogar ein, dass einige vielleicht sogar weniger wurden, dass ich manchmal jemandem gegenüberstehe, der nichts als sich selbst mit sich herumträgt. Ich lächele, schüttele die Hand und höre zu. Ich weiß was es heißt alleine da zu stehen und auch wenn ich mir oft nichts sehnlicher wünsche als dass diese Menschen eines Tages allein darstehen werden, mit all ihrem Pelz und der Kleidung aus China, so habe ich doch gelernt, dass es nicht immer nur schwarz und weiß sein muss.

 

Das manchmal vielleicht das Geld fehlt, manchmal die Information und das Erzählen und Zuhören immer im gleichen Verhältnis stehen muss.

 

Nun musste ich sechsundvierzig Jahre alt werden um dies zu verinnerlichen und der Weg ist trotzdem noch lange nicht zuende. Denn morgen, nach Irrenanstalt, Studium, Minijobs und schließlich der Gründung meiner eigenen Firma für faire Kleidung, werde ich zum ersten Mal das Europaparlament betreten. Denn auch wenn ich mir nicht sicher bin ob wirklich all die Kinder, die uns und unsere Kleidung begeleiten, wie Schatten ihre Besitzer, aus Europa stammen, im Gegenteil, weiß ich das dies ein Anfang ist, ein Schritt in die richtige Richtung und dass wenn ich dem Rest der Welt auch nur einen Bruchteil dessen nahe bringen könnte, was mich belastet, unsere Welt eine echte Chance auf Veränderung hat.

 

Eins habe ich in all den Jahren sicherlich gelernt, was Verrückt ist und was nicht, dass liegt immer im Auge des Betrachters, denn wenn wir ehrlich sind ist es nicht viel verrückter Kinderarbeit zu unterstützen als sie zu verabscheuen?

 

16 Jahre