Das Schwert der Natur
Der Himmel war azurblau, als über eine Wiese ein Schmetterling flog. Auf der Wiese stand eine Bank. Vor der Bank war ein Weg aus Kieselsteinen. Der Schmetterling flog über die Bank hinweg, überquerte den Weg und flog über einen kleinen See. Er flog durch ein kleines Wäldchen und verließ den Park. Nun flatterte er über eine dicht befahrene Straße. Der Schmetterling schlängelte sich wie eine fliegende Schlange durch ein paar Hochhäuser und schließlich flatterte er in ein geöffnetes Fenster und ließ sich auf einem braunen, rechteckigen Gebilde nieder.
Charlotte Meyer saß über ihren Hausaufgaben an ihrem Schreibtisch. Plötzlich sah sie auf. Ein schwarzer Schmetterling mit silbernem Muster auf den Flügeln saß auf ihrem Tisch. Charlotte sah ihn sich genau an. Was für erstaunliche Schmetterlingsarten es nur gab! Der Schmetterling krabbelte an die Kante des Tisches und schwang sich in die Luft. Charlotte lächelte. Sie trat ans Fenster und sah dem Schmetterling hinterher, bis er nicht mehr zu erkennen war. Schließlich kehrte sie wieder zu ihren kniffeligen Mathehausaufgaben zurück.
Als die Sonne schon fast unterging, war Charlotte endlich fertig mit ihren Hausaufgaben.
Sie verließ ihr Zimmer und tappte auf bloßen Füßen die Treppe hinunter ins Esszimmer. Der Tisch war gedeckt und es duftete nach Kartoffelgratin. In der Küche klapperten Töpfe, ihr Vater kochte. Charlotte war ein Einzelkind und ihre Mutter war sehr früh gestorben. Warum, wusste sie nicht. Sie hatte ihren Vater schon tausendmal danach gefragt, aber er hatte ihr nicht geantwortet. Charlotte ging in die Küche. Hier roch es noch köstlicher. Ihr Vater stand mit einer weißen Schürze am Herd. Obwohl das Essen noch nicht ganz fertig war, setzte sich Charlotte schon an den Esstisch. Das Fenster stand offen und leise drang das Geräusch von Autos in den Raum. Hier im elften Stock des drittgrößten Gebäudes der Stadt hörte man nicht viel von dem, was unten auf der vielbefahrenen Straße geschah. Insgesamt hatte das Hochhaus 16 Stockwerke.
Endlich betrat ihr Vater das Zimmer, beladen mit vielen Töpfen und Pfannen. Ihr Vater liebte Kochen, er war etliche Male in Kochshows aufgetreten und er war der Chefkoch eines sehr feinen Restaurants. Außerdem hatte er etliche Kochbücher geschrieben. Sie aßen zusammen in aller Stille, die nur ab und zu von einem Besteckklirren oder einem “Mmmhhhhhh“ gestört wurde. Als die beiden fertig mit Essen waren, wünschte sie ihrem Vater „Gute Nacht!“ und machte sich fürs Bett fertig. Charlotte zog ihren Schlafanzug an, putzte ihre Zähne und kroch ins Bett. Sie hatte keine Lust, noch irgendetwas zu lesen, also knipste sie ihr Nachtlicht aus und schloss die Augen. Vollkommene Dunkelheit umfasste Charlotte.
Dann, auf einmal, wurde sie in einen Wirbel aus hellen Farben gezogen. Schlagartig wurde es daraufhin wieder dunkel. Langsam leuchteten nun überall um sie herum helle Lichtpunkte auf.
Charlotte flog zwischen den Lichtpunkten hindurch und kam schließlich einem davon näher. Der Punkt wurde größer und größer und schließlich konnte man erkennen, dass er schimmernd silbrig war. Sie sauste auf ihn zu und kopfüber kam sie auf ihm auf. Dann wurde wieder alles schwarz. Charlotte schlug die Augen auf. Da, wo der Himmel hätte sein sollen, war ein gräuliches Licht, das einen leichten, hellen Schimmer von sich gab. Ein runder schwarzer Kreis war wohl eine Art Sonne. Der Boden war grau-braun und mit einer Menge kleiner Krater besetzt. Am Horizont prangte ein riesengroßer Krater. Ganz langsam richtete Charlotte ihren Oberkörper auf und betastete vorsichtig ihren Kopf. Besonders er tat höllisch weh. Charlotte wünschte, sie würde aus diesem ziemlich seltsamen Traum aufwachen, so sehr tat ihr alles weh.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und stand unter dem Protest ihrer Knochen und ihres Kopfes auf und versuchte auf schwankenden Beinen ein paar Schritte zu gehen. Doch plötzlich spürte sie, wie ihr die Beine unter dem Körper weggezogen wurden. Jemand fasste sie an den Fußgelenken, zog sie hoch und ließ sie nach unten baumeln. Charlotte erschrak. Kopfüber blickte sie in ein Gesicht, das so unnatürlich war, dass man es nicht beschreiben konnte. Die eine Gesichtshälfte war so wie die eines Menschen, aber die andere....?
Diese war mit silbernen Metallplatten überdeckt, und ihr Auge war rund und weiß mit einer einzigen schwarzen Pupille. Das Auge rollte dabei beständig in der Augenhöhle herum. Die metallene Hälfte des Gesichts hatte kein Ohr, aber dafür waren oben auf dem Kopf ganz normale Haare wie bei einem Menschen. Der Körper war ebenfalls zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Roboter, oder wie man es nannte, wenn jemand mit Metall beschlagen war. Dann spürte sie, wie sich der Griff des Roboter- Menschen lockerte und sie merkte, wie sie zum zweiten Mal mit dem Kopf nach unten auf die Erde fiel. Abermals wurde alles um sie herum schwarz. Das Letzte, was sie noch dachte, war: “Hoffentlich wache ich jetzt auf!“
Aber als sie aufwachte, musste sie feststellen, dass sie nicht in ihrem Bett lag, sondern auf einem harten, kalten Steinboden. Alles, aber wirklich alles tat ihr weh. Nach einer Weile fasste Charlotte sich ein Herz und setzte sich auf. Sie stellte fest, dass sie in einer Art Kerker war. Die Decke, die Wände und der Boden waren aus grob behauenem Stein. Eine Tür sah so aus, als wäre sie aus Holz, aber da war sich Charlotte nicht wirklich sicher.
„Hallo!“ Charlotte erschrak. Wer war das? Suchend sah sie sich um und erblickte im schwachen Schein einer Fackel einen Roboter-Menschen. Sie starrte ihn an und er starrte zurück. Endlich fasste sie sich ein Herz und fragte: „Sprechen Sie deutsch?“ „Ja, das tue ich,“ kam die Antwort von ihm zurück, „Wer bist du?“. Charlotte stotterte: „Ähhh, ich ... ich bin Charlotte, und du, wer bist du?“
„Charlotte? Ist das dein Name? Wie witzig! Ich heiße Thymian.“
„Was? Thymian? Wie das Kraut, das man essen kann?“
„Jaah. Und woher kommst du? Du scheinst nicht von hier zu sein?“ Charlotte empfand es als eine große Erleichterung, dass jemand ihre Sprache sprach, auch wenn dieser so ganz anders aussah.
Von Thymian erfuhr sie, dass sie auf dem Planeten Fauna gelandet war. Auf diesem hatte es früher ganz viele Pflanzen gegeben. Doch König Basilikos hatte alles Grün roden und abholzen lassen. Nun war die Landschaft karg und kahl geworden.
Thymian und alle anderen, die sich gegen ihn gewehrt hatten, waren in Kerker gesteckt worden.
Er erzählte, wie die Wächter Charlotte hier in seine Zelle im Königspalast geschleppt hatten.
Charlotte im Gegenzug berichtete von ihrem Planeten, der Erde, und ihrer merkwürdigen Reise hierher. Dass sie anfangs gehofft hatte, alles sei nur ein Traum, aus dem sie bald erwachen würde. Die beiden freundeten sich zunehmend an und nach und nach fassten sie den Entschluss, dem bösen König eine Lektion zu erteilen.
Sie grübelten bis tief in die Nacht. Schließlich hatten sie einen Plan: Charlotte musste es gelingen, das Schwert der Natur zu erlangen, welches gut bewacht in der Schatzkammer des Königs lag. Dieses war einst von einem rein menschlichen Schmied angefertigt worden, und nur ein Mensch hatte die Macht, es zu nutzen. Nur durch die Kraft des Schwertes war es möglich, wieder Pflanzen auf Fauna wachsen zu lassen. Dazu musste man es in die Erde stoßen. Allerdings konnte man das Schwert nur mit Hilfe einer Pflanze oder eines Pflanzenteils finden. Aber auch dafür hatten Charlotte und Thymian bald eine Lösung gefunden.
Jeden Morgen kam ein Wächter in die Zelle und brachte ihnen Essen und Trinken. Jeder Wächter hatte einen großen Dorn einer Rose als Waffe bei sich. Um die Tür öffnen zu können, musste der Dorn vor der Tür abgelegt werden. Die Tür war aus Xorphoax, einem Material, das unnachgiebig wie harter Gummi war, und konnte nur mit Hilfe eines Laserstrahls geöffnet werden. Ein Laserstrahl war in jeder metallenen Hand eines Wächters eingelassen und konnte nur mit dem menschlichen Fingerabdruck dieses jeweiligen Roboter-Menschen angeschaltet werden.
Der Morgen kam, Charlotte legte sich auf den Boden, mit den Füßen zur Tür und mit dem Körper zur Wand. Sie stellte sich schlafend, während Thymian sich wartend auf den Boden setzte. Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich endlich die Tür und der Wächter Birker kam herein. Er wollte die Tür hinter sich schließen, aber Charlotte war schneller. Sie steckte ihren Fuß in den Spalt zwischen Tür und Wand. Birker, der dachte, die Tür wäre geschlossen, stellte das Essen ab. Charlotte nutze den kurzen Moment, schob sich unauffällig durch den Türspalt, nahm sich den Dorn der Rose und sauste los.
In der Biegung eines Ganges stellte sie den Dorn auf seine stumpfe Seite. Das war erforderlich, um das Schwert zu finden. Augenblicklich erhob sich der Dorn in die Luft und flog mit der Spitze voran durch Gänge, Treppen und Hallen des Königspalastes. Charlotte eilte hinter ihm her. Fast wären sie mit einem Trupp Wächter zusammengestoßen, aber Charlotte konnte noch rechtzeitig abbiegen.
Endlich war der lange Weg zu Ende und sie stand in einer Sackgasse, am Ende eine Tür aus Xorphoax. Charlotte schlug mit ihrer flachen Hand auf die stumpfe Seite des Dorns, so dass aus seiner Spitze ein Laserstrahl drang. Die Tür ging auf und Charlotte betrat eine Halle.
Aber was war das? Ein Dutzend Wächter stand mit dem Rücken zu ihr. Sie rührten sich nicht. Vor ihr im Boden war eine Schrift eingemeißelt: „Du musst an den Wächtern vorbei! Achtung: Alles, was vor den Wächtern ist, wird von ihrem Laser zerstört!“ Charlotte stutzte. Musste sie jetzt auch noch eine Aufgabe lösen?
Also überlegte sie. Schließlich riss sie ein Stück von ihrem Hemd ab und warf es vor die Wächter, die es augenblicklich mit ihren Laserwaffen zerstörten. Diese Chance nutzte Charlotte. Sie rannte an ihnen vorbei in den dahinterliegenden Gang. Aber ein paar der Wächter wurden doch auf sie aufmerksam und jagten ihr hinterher. Sie schossen ihre Laserstrahlen ab. Doch alle verfehlten Charlotte. Sie rannte um ihr Leben und spürte den heißen Atem der Wächter in ihrem Nacken. Dann durchfuhr ein stechender Schmerz sie. Ein Laserstrahl hatte sie am Bein getroffen. Sie stolperte und fiel hin. Schnell wollte sie sich hochrappeln, um weiter zu rennen, da sah sie ein Paar Beine vor sich stehen. Hinter den Beinen war eine tiefe Bodenspalte zu erkennen. Charlotte blickte hoch, direkt in das Gesicht von König Basilikos. Sie wusste es sofort. So schrecklich konnte nur einer aussehen. Er lachte. Sein Lachen hallte von den Wänden wider. „Na, du kleiner Mensch? Bist wohl kurz vor dem Ziel gescheitert?“
Schweiß trat auf Charlottes Stirn. Sie war den Tränen nahe. Würde jetzt alles vorüber sein? Würde sie ihren Vater nie wieder sehen? Eine Träne lief Charlottes Wange hinunter. Ihr Bein tat unendlich weh, sie wollte nicht mehr. Wollte nicht mehr kämpfen, einfach nichts mehr tun. Doch dann dachte sie an ihre Mutter. Sie hätte jetzt bestimmt nicht aufgegeben. Da sah sie ein Glitzern hinter den Beinen des Königs und der Bodenspalte. Das Schwert!
Hoffnung stieg in Charlotte auf. Und da hatte sie einen Plan. Sie musste den König zurück in den Abgrund drängen. Charlotte robbte vorwärts. Der König lachte immer noch: „Du erbärmliches Gör!“ Charlotte kroch vorwärts und hielt ihre Arme bereit. König Basilikos hatte aufgehört zu lachen. Da schnappte Charlotte zu. Sie presste ihr Arme um seine Beine und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er plumpste auf seine vier Buchstaben und schrie wütend: „Du kleine... (Die Schimpfwörter, die er benutzte, werde ich hier nicht aufzählen.)“ Der König versuchte Charlotte in den Abgrund zu schubsen, doch er war viel zu hektisch. Obwohl Charlottes Herz bis zum Zerspringen klopfte und ihr verletztes Bein höllisch wehtat, stand sie auf und setzte zu einem gewagten Sprung über den Abgrund an. Doch der König erwischte sie am Bein, versuchte sie zurückzuziehen, doch sie fand mit den Fingerspitzen auf der anderen Seite Halt. Mit allerletzter Kraft schaffte sie es, sich ganz hinüberzuziehen.
Dort stand Charlotte Meyer, ganz knapp dem Tod entkommen, vor dem Schwert der Natur.
Ehrfürchtig hob sie es hoch und drehte sich zum König um. Der starrte sie an und in sein Gesicht war pure Angst geschrieben. Charlotte nahm das Schwert und stemmte es in den Boden. In diesem Moment durchflutete sie ein Stoß Energie. Ihre Haare wirbelten durch die Luft und sie fühlte sich, als würde sie fliegen. „Neeeeiiiiiiinn!“, schrie der König.
Das Schwert löste sich aus dem Boden, erhob sich und nahm Charlotte mit in die Höhe.
Sie sah, wie sie flog, und überall, wo sie und das Schwert hinflogen, wuchsen Pflanzen aus der Erde. Der Königspalast unter ihr zerbrach, die Kerker öffneten sich. Sie sah wie ihr eine Menge Gefangener und sogar auch ein paar Wächter zujubelten. Sie entdeckte Thymian, wollte zu ihm hinunter, um sich bei ihm zu verabschieden, aber sie flog immer weiter über den ganzen Planeten, bis alles grün war.
Da verwandelte sich das Schwert, welches sie umklammert hielt, in einen schwarzen Schmetterling mit silbernem Muster, der sich leise in die Lüfte schwang. Charlotte lächelte. Sie wurde weg vom Planeten Fauna durch einen Wirbel heller Farben gezogen.
Charlotte schlug die Augen auf. Sie lag in ihrem Bett. Sie dachte an Thymian, an König Basilikos und all die anderen und konnte nicht fassen, was geschehen war. Durch die Dunkelheit sah sie einen schwarzen Schmetterling durch ihr Zimmer fliegen und ein paar silberne Funken versprühen.
12 Jahre